StZ-Interview mit dem Kreisvorsitzenden Andreas Reißig: Die SPD hat jetzt eine Vorreiterrolle

Veröffentlicht am 15.03.2010 in Kommunalpolitik

"Ohne uns gibt es weder die neue sozial-ökologische Mehrheit noch die so genannte bürgerliche Mehrheit nach traditionellem Strickmuster."

Das folgende Interview mit Andreas Reißig ist in der Stuttgarter Zeitung erschienen.

„Die SPD hat jetzt eine Vorreiterrolle"

Herr Reißig, der vermeintliche Grünen-OB-Kandidat Boris Palmer hat abgewinkt. Ein Grund zum Aufatmen für die SPD?

Das ist doch nur ein Ablenkungsmanöver, damit er in Tübingen nicht die unangenehme Frage beantworten muss, ob er schon auf dem Absprung ist. Die Kandidatur ist nur vertagt.

Werden Sie einen Bewerber aufbieten?

Selbstverständlich. Die Sozialdemokratie in Stuttgart wird ja nicht ihren Gestaltungsanspruch aufgeben. Dem Thema werden wir uns nach der Landtagswahl widmen.

Wie wird sich Ihrer Ansicht nach OB Wolfgang Schuster entscheiden?

Er wird sicher nicht mehr kandidieren. Das sieht man an seiner demonstrativen Unlust, diese Stadt zu führen. Ich habe den Eindruck, dass er nach der Kommunalwahl vor den neuen Verhältnissen kapituliert hat. Ich will das menschlich nicht bewerten, aber es ist dem Amt nicht angemessen.

OB Schuster ist nur im Amt, weil sich SPD und Grüne 2004 nicht einig waren. Wäre Ihnen diesmal ein grüner OB lieber als einer von der CDU, der für Stuttgart 21 ist?

OB-Wahlen sind Persönlichkeitswahlen, und die Kandidaten sind noch nicht einmal bekannt. Boris Palmer ist immer ein inhaltlicher Vorkämpfer für Schwarz-Grün gewesen und durch seinen Deal bei der Wahl 2004 verantwortlich dafür, dass wir heute einen CDU-OB haben. Und er vertritt bei Stuttgart 21 eine ganz andere Meinung als die SPD. Von daher habe ich keinen Grund, ihm den roten Teppich auszurollen.

2011 steht die Landtagswahl an. Beim letzten Mal hat die SPD keinen Kandidaten durchgebracht. Wie sieht es diesmal aus?

Wir können nur gewinnen, und zwar mit einem Großstadtwahlkampf, bei dem wir auch die Bildungsmisere thematisieren. Ich sehe nicht, dass die neue Kultusministerin Marion Schick für die notwendigen Veränderungen steht, sondern eher für ein schickeres Design. Ich hoffe, dass es ihr nicht reicht, ein Marketinggag zu bleiben.

Werden Sie für den Landtag kandidieren?

Ich stehe nicht zur Verfügung, weil die Ratsfraktion inzwischen eine Schlüsselrolle einnimmt, die mich in positiver Weise fordert. Hier bestehen enorme Gestaltungsmöglichkeiten und einmalige Profilierungschancen für die SPD - da will ich als Kreisvorsitzender maßgeblich mithelfen. Ohne uns gibt es weder die neue sozialökologische Mehrheit noch die bürgerliche Mehrheit nach traditionellem Strickmuster.

Woher nehmen Sie das Selbstvertrauen nach den vielen Wahlniederlagen?

Wir werden nicht erfolgreich sein, wenn wir in unendlichen Selbstzweifeln versinken. Das letzte halbe Jahr hat gezeigt, dass die SPD ihre neue Rolle angenommen hat.

Wie äußert sich das denn?

Wir haben mit den Grünen und SÖS/Linke in schwieriger Zeit einen genehmigungsfähigen Haushalt verabschiedet. Die CDU hat sich dabei als Totalausfall entpuppt. Wir haben einen Paradigmenwechsel bei der Flächenbewahrung eingeleitet, und wir werden eine Vorreiterrolle bei der Daseinsvorsorge mit der Gründung von Stadtwerken pflegen. Außerdem halten wir bei Stuttgart 21 an unseren Überzeugungen fest und fallen nicht einfach aus Opportunismus um. Das wird sich langfristig auszahlen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Wir werden die aufgewühlte Stimmung in dieser Stadt nicht von heute auf morgen drehen, das weiß ich. Es wird nun darauf ankommen, für die Gestaltung des neuen Stadtquartiers eine Bürgerbeteiligung zu initiieren, die diesen Namen verdient.

Wäre es nicht besser, Sie würden den Unterausschuss Stuttgart 21 aktivieren, in dem beispielsweise über die Laster gesprochen wird, die die Rosensteinstraße blockierten?

Auch das haben wir beim OB angemahnt, bisher ohne Resonanz.

Sie denken langfristig, aber kurzfristig droht Ihnen eine Niederlage bei der kommenden Landtagswahl - vor allem wegen Ihrer Haltung zu Stuttgart 21.

Ich kann jedes Wort unterschreiben, das Ortwin Renn im StZ-Interview gesagt hat. Es herrschen hier verständliche Ängste, die über das Projekt Stuttgart 21 hinausgehen: der Verlust von Heimat und Identität. Deshalb müssen wir jetzt argumentativ in die Offensive gehen. Und dazu gehört auch eine langfristige angelegte Beteiligung.

Wenn in 15 Jahren die ersten Häuser gebaut werden, wird man sich an die Bürgerbeteiligung von 2010 nicht mehr erinnern.

Es kommt mir nicht darauf an, heute die Fassade einzelner Gebäude festzulegen, sondern gemeinsame Zielsetzungen zu vereinbaren, gerade für das Europa- und Rosensteinviertel. Dafür müssen die verschiedenen Gruppen aus der kulturellen Szene, aus der Architektenschaft und Stadtplanung, vor allem aber betroffene Bürger einbezogen werden. Gefragt ist ein zeitgemäßes Konzept für diese Beteiligung unter externer Moderation. Wir werden dazu Vorschläge machen, zum Beispiel die Einsetzung eines Nachhaltigkeitsbeirats.

Steht die SPD-Basis noch hinter Stuttgart 21 ?

Ich kenne keinen Funktionsträger, der dieses Projekt noch infrage stellt.

Warum gibt es eigentlich keine Mitgliederbefragung?

Stuttgart 21 kommt, daran gibt es keinen Zweifel. Wir haben in der Vergangenheit weder den Bürgern Sand in die Augen gestreut noch unseren Mitgliedern. Wenn wir am Anfang stünden, käme eine Befragung infrage. Jetzt werden wir keine rückwärts gewandte Diskussion mehr führen, sondern eine in die Zukunft gerichtete.

Bei der Landtagswahl droht der negative Drexler-Effekt. Der Bahnprojektsprecher ist bekanntlich kein Leisetreter.

Meine Begeisterung über seine Verpflichtung hat sich zunächst in Grenzen gehalten, weil ich wusste, dass das mit Ärger verbunden ist. Inzwischen habe ich großen Respekt, dass er trotz heftiger Anfeindungen den Kopf dafür hinhält. Im Übrigen hat der letzte Landesparteitag in großer Einigkeit das Projekt und auch Wolfgang Drexler in seiner Funktion unterstützt. Die Hängepartie währte schlicht zu lange, aber dafür waren die Bahn, das Land und der OB verantwortlich.

Aber die Sozialdemokraten haben wieder einmal alles richtig gemacht?

Die SPD hat immerhin den Mumm gehabt, Veranstaltungen in den Stadtbezirken zu machen oder sich mitten im Wahlkampf mit dem Architekten Christoph Ingenhoven auseinanderzusetzen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir über die Gestaltung des Straßburger Platzes und die künftige Nutzung des Bahnhofsgebäudes kritisch-kreativ nachdenken müssen. Die Grünen machen dagegen weiterhin auf Fundamentalopposition, um für die Landtagswahl Honig daraus zu saugen. Dann fährt der Zug in die Zukunft eben ohne sie ab.

Sie sind von der Unumkehrbarkeit des Projekts überzeugt. Ändert daran auch die Debatte über die Unwirtschaftlichkeit der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm nichts?

Die Einzigen, die die Neubaustrecke infrage stellen, sind die Grünen - was mich sehr verwundert, weil sie diese jahrelang für sinnvoll gehalten haben.

Offenbar weil sie erkannt haben, dass Prognosen und Berechnungen geschönt waren?

Die Spekulationen über mögliche Kostensteigerungen beziehen sich nicht allein auf diese Strecke, sondern grundsätzlich auf alle Bahnprojekte. Ich schließe daher nicht aus, dass die Strecke nach Ulm teurer wird. Die Frage ist nur, ob dadurch der Sinn verloren geht, zum Beispiel fast eine halbe Stunde Fahrzeit einzusparen. Alle haben in der Vergangenheit Priorität auf diesen Teil der Magistrale gelegt. Man muss deshalb beantworten, ob man sie voranbringen oder kaputtreden will.

Der Grünen-Fraktionschef Werner Wölfle will aber mit Ihrer Hilfe Sozialbürgermeister werden. Wie sehen Sie seine Chancen?

Auch hier ist die Kandidatenlage nicht eindeutig. Ich gehe von seiner Kandidatur aus, weiß aber nicht, ob die FDP noch jemanden ins Rennen schickt. Klar ist, dass die SPD das dann souverän entscheidet. Dass Werner Wölfle biografisch die Voraussetzungen mitbringt, ist für mich unstrittig.

Die SPD hat weniger Stadträte als früher, ist aber öfter das Zünglein an der Waage. Kann man als Mehrheitsbeschaffer überhaupt noch ein eigenes Profil entwickeln?

Ja, indem man als Ideengeber die Mehrheiten findet. Ich habe unsere Vorreiterrolle beim Rückkauf der Wasser- und Energieversorgung genannt, und wir haben Perspektiven für die Zukunft der Landesbank Baden-Württemberg aufgezeigt. Falls es zu einer Privatisierung kommt, wollen wir die BW-Bank herauslösen und wieder eine Stadtsparkasse für unsere Bürger und die mittelständische Wirtschaft bilden.

Beim Thema Villa Berg scheint sich die SPD ohne grüne Hilfe zu verheben. Den Investor Häussler zu verhindern würde die Stadt 20 Millionen Euro kosten, die sie nicht hat.

Das stimmt nicht. Die Sanierung von Park und Villa Berg muss nicht morgen umgesetzt werden. Die Grünen haben hier nach der Wahl eine Kehrtwende vollzogen, weil sie Angst haben, als Investorenschreck zu gelten. Ähnlich war es beim Quartier S. Für die SPD dagegen steht nachhaltige Stadtplanung im Vordergrund.

Man wird das Gefühl nicht los, dass die Grünen, mit denen Sie eine sozialökologische Koalition bilden, immer noch Ihr Hauptgegner sind. Wie passt das zusammen?

Ich muss Sie enttäuschen. Ich habe ein ganz entspanntes Verhältnis zu den Grünen. Die neuen Mehrheitsverhältnisse bieten aber beiden Gemeinderatsfraktionen die Chance, auch die Unterschiede klar zu machen. Ich sehe derzeit große Schnittmengen bei der Haushaltsplanung sowie bei sozial- und kulturpolitischen Schwerpunkten. Doch es muss auch deutlich werden: weder ist die SPD das Anhängsel der Grünen noch umgekehrt.

Was bedeutet dies für die Fragen einer Kulturförderabgabe und einer Erhöhung der Gewerbesteuer?

Wir bekommen im Mai die neue Steuerschätzung und werden dann alles in diesem Lichte diskutieren: die sogenannte Bettensteuer, die Gewerbesteuer und notwendige Sparmaßnahmen.

Müssen dann nicht bei der Stadt auch endlich Leistungen statt immer nur Personal gestrichen werden?

In der Tat: die Zitrone ist ausgequetscht. Beim Personal darf es keine weiteren Einsparungen mehr geben.

In der Kreiskonferenz der Stuttgarter SPD wird heute Abend ein Antrag diskutiert, der einen Bürgerhaushalt fordert. Was steckt hinter dieser Idee?

Die Menschen wollen mitwirken und teilhaben, das spüren wir mehr denn je. Deshalb wollen wir von 2012 an einen sogenannten Bürgerhaushalt einführen, wie er in Frankfurt, Hamburg oder in Köln längst gang und gäbe ist. Somit können die Bürger kontinuierlich Einfluss auf die Haushaltsberatungen im Rathaus nehmen. Wir wollen dadurch den öffentlichen Diskurs über Schwerpunkte, geplante Investitionen und laufende Kosten stärken und bürgerschaftliches Engagement fördern. Entscheidend ist aber, dass dabei Bürger aus unterschiedlichsten Milieus beteiligt werden. Auf die Meinungsbildung des Gemeinderats wird das erheblichen Einfluss haben.

Das Interview führten Thomas Borgmann und Jörg Nauke.

 

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